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Flugwandern im Simmental


21. Februar 2023

Flugwandern im Simmental

  • Erlebt und geschrieben von Michi Kohl

Mitte November.

Ein stabiles Hoch über den Alpen, traumhaft blauer Himmel und bunte Herbstfarben. Wir übernachten im Camper in Gwatt am Thunersee. Alexandra hat tags darauf geschäftliche Verpflichtungen, also plane ich für mich allein. Mal sehen, die Landeskarte scheint mir einen Wink zu geben… Mit dem Bus , mit dem Zug , wieder mit dem Bus und dann hike and fly. Leichte Südströmung in der Höhe, keine grossartige Thermik zu erwarten, trotzdem freue ich mich. Auf in unbekanntes Gelände!

Zusammen mit nur wenigen Wanderern steige ich auf dem Jaunpass aus dem Bus und nehme sogleich den Aufstieg zum «Bäderhore» in Angriff. Mein Rucksack ist der grösste – hat ja sonst keiner einen Schirm dabei! Es sind 500 Höhenmeter zu überwinden. Eine grandiose Aussicht auf die Alpenkette und bald auch ins Mittelland bis zum Jura erfüllt mich mit Freude! Und dank den knochentrockenen, gelb gefärbten Gräsern spüre ich einen willkommenen Aufwind.

Packsack mit Schirm an geeignetem Startplatz deponieren, Gipfel erklimmen, fertig schwitzen, Lunch verzehren und weitere Vorfreude aufbauen. Zurück zur angedachten Startwiese und schon bald rutscht mein Fluggerät immer wieder auf dem glatten Gras den Hang hinunter! Zwei oder drei Grasbüschel mit Erdballen erweisen mir die Ehre und beenden die Rutschpartie. Alles verpackt, Check gemacht und damit starbereit. Halt! Was hast Du für ein Ziel, Michi? Na ja, den südöstlich bis südlich ausgerichteten Hängen des Simmentals entlanggleiten, soweit mich der Flügel trägt. Landen? Da hat es so viele Wiesen…

Mein Rush trägt mich wie gewohnt rasch vom Berg weg und zu den Adlern, welche weiter draussen kreisen. Und tatsächlich finde ich den unsichtbaren Lift, der mich unverhofft langsam überhöhen lässt. Die Leute winken vom Gipfel und da ist es: dieses unbeschreibliche Gefühl einem Adler gleich seine Kreise in einer fantastischen Bergwelt zu drehen und allen Ballast des Alltags unter sich zu lassen. Ich jauchze – vermutlich etwas verhalten, aber für meine Verhältnisse ganz ok.

Es geht nicht mehr weiter hinauf oder ich bin nicht so gut, wie die beiden Feder-Akrobaten und ich beginne den Gleitflug Richtung unteres Simmental. Eine eindrückliche Schlucht unter und eine schroffe Felswand weit vor mir gleite ich ruhig dahin. Auf welcher Höhe komme ich wohl an? Welchen Abstand zum Gelände soll ich versuchen? Einfach geniessen. Ich scanne die Gegend und mache Fotos.

Ich fliege schon bald auf der Höhe von Boltigen und habe immer noch viel Luft unter dem Sitzli. Ich geniesse die Spannung, während sich einzelne Warmluftblasen ihren Weg bis zu mir hinauf kämpfen, um dann wieder absinkenden Strömungen Platz zu machen. Wie weit kann ich das Gleiten verlängern? Instinktiv beginne ich nun doch nach etwaigen Landeplätzen Ausschau zu halten.

Mein Vario verkündet öfters steigende Verhältnisse, aber ich kann ein Postauto unten schon recht gut erkennen und hören! Da vorne scheint es eng zu werden. Was macht der Horizont? Wenn es so bleibt, funktioniert es, ansonsten habe ich die Wahl zwischen hohen Buchen, den 15 kV der BLS-Stromleitung, der befahrenden Hauptstrasse oder der tosenden Simme! Entscheide dich, Michi! Ein kräftiges kurzes Steigen nimmt mir den Entscheid ab. Ich nähere mich nun Oberwil und sehe Fliegerkollegen beim Zusammenpacken auf dem Talgrund: Andi Aebi’s Flugschüler, wie sich später herausstellt.

Mit höchster Konzentration, aber auch Genuss gleite ich weiter dem Simmental entlang, ständig auf der Hut vor querenden Leitungen, und schaffe es knapp ohne Zaunberührung und unter den verdutzten Blicken des Braunviehs über eine Anhöhe im Tal, um nochmal einige Hundert Meter weit zur Landung nahe Erlenbach zu schweben! Die genussvolle Spannung weicht nun der glücklichen Dankbarkeit, so ein grossartiges Erlebnis gewagt und gewonnen zu haben!

Einer von vielen Flügen mit bleibenden Eindrücken.

 

Die nächste Stafettenfolge verfasst Ronja Heim.