(K)ein besonderer Flug
(K)ein besonderer Flug
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Erlebt und geschrieben von Kaspar Rüegg

Jan hat mir den Stafettenstab übergeben «für einen Flug von der Scheidegg».
Er möge mir verzeihen, dass ich von einem Flug in meiner zweiten fliegerischen Heimat, Dagro im Nordtessin, berichte.
Dieser Flug vom August 24 ist gerade frisch und enthält, obwohl weder besonders lang noch besonders weit noch besonders spektakulär, vieles, was mir beim Fliegen lieb und wichtig ist.

Dagro ist ein wenig bekanntes Fluggebiet mit einer Seilbahn, in der Gegend von Malvaglia im Bleniotal TI.
Da fliege ich gern und öfters und hielt im Jahr 2021deshalb auch für kurze Zeit, gemäss XC – Contest, den Ortsrekord für den längsten Streckenflug.
Bis ein gewisser Chrigel Erne erschien und meinen Rekord pulverisierte – und das irgendwann Ende Oktober! Später ist es mir gelungen, noch ein paar Punkte mehr zu erfliegen und den Rekord zurückzuerobern - erzählt es nicht dem Chrigel.
Natürlich ist es prickelnd, in völlig unbekannten Gegenden zu fliegen. Mir macht es jedoch besonders Freude, über einer vertrauten Landschaft zu kreisen, einen Bezug zu Tälern, Bergen, Weilern und, ja, Menschen zu haben.
Am Sommersonntag dieses Fluges brunchen wir mit Gästen draussen vor dem Haus, im Dörflein Dagro. Samuel, der Göttibub meiner Frau, stösst dazu. Er ist mit dem Töff und einem Miniwing über den Lukmanier zu uns gefahren. Er kennt die Gegend, ist aber noch nie hier geflogen.
Und wir zwei auch noch nie zusammen.
Erst im frühen Nachmittag machen wir uns auf den Weg. Leichter Nordüberdruck und eine schon lange andauernde Hitzeperiode halten unsere fliegerischen Ambitionen tief. Darum entscheiden wir uns auch dafür, hoch hinaufzuwandern: Ein Start ab der Alpe Ciou statt vom offiziellen Startplatz beschert uns etwa 500 Höhenmeter mehr, und somit einen längeren Gleitflug nach Malvaglia. Oder aber bessere Chancen, brauchbare Thermik zu finden!
Ich muss mich anstrengen, um beim Aufstieg Samuels Tempo mithalten zu können.
Schweissgebadet kommen wir auf der Alp an – und sind schon im Gespräch mit Fausto, der uns seine Hütte zeigt und uns etwas zu trinken offeriert – no grazie, keine Birra…
Fausto ist hier geboren, erzählt er stolz. Auf über 2000 Metern über Meer, ohne Zufahrtsstrasse und damals, vor über 70 Jahren, natürlich auch ohne die Möglichkeit eines Helikoptereinsatzes im Falle von Komplikationen.
Der Rasen auf Ciou ist perfekt zum Starten, und der Wind stimmt.
Samuel und ich verabschieden uns von den Einheimischen, und auch voneinander.
Er wird in Malvaglia landen und heimkehren.
Ich habe, wie fast immer, keine Ahnung, wie lange und wohin mich die Lüfte tragen werden. Jeder Flug ist ein Abenteuer. Vom sofortigen Absaufer bis zum Streckenflug ist alles drin. Wenn möglich, möchte ich oben in Dagro oder in dessen Umgebung landen.
Samuel startet zuerst. Er kann sich trotz Miniwing vorne am Felssporn halten, da wo sich Talwind und Thermik zusammentun. Cool! Er hat Biss und scheint schnell zu lernen.
Gemeinsam pröbeln wir herum, mal etwas höher, mal etwas tiefer, die Leute von der Alp winken.
Einfach ist es heute nicht. Nirgendwo steigt es zuverlässig. Geduld ist gefragt. Es geht darum, «die Tür zum oberen Stockwerk» zu finden. Als ich sie gefunden habe, kann ich dem Relief nach weitersteigen, die Alp unter mir klein werden lassen und dieser schroffen, felsigen Krete folgen, bis ich die Höhe des ersten Gipfels, Cima di Piancabella, erreicht habe.
Samuel ist in dieselbe Richtung geflogen, einfach tiefer. Er kämpft in der Gegend der Seilbahn von Dagro und lässt sich nicht kleinkriegen.
Ich setze meine Höhe deshalb in Strecke um und quere das Val Malvaglia, um am Pizzo Muncrèch den erwarteten Schlauch zu finden und dann wieder zurückzukehren. Samuel markiert den Aufwind, und wir sind nochmals fast in Rufweite.
Ich liebe die Herausforderung beim Fliegen. Ich mag es, zu kämpfen – selbstverständlich besonders dann, wenn sich der Einsatz auch bezahlt macht!
Mit Erfahrung, besserem Schirm und Glück erwische ich die Thermik, welche zur Basis führt.
Sollte ich runterspiralen, mit Samuel weiterfliegen und auf dem Fussballplatz in Malvaglia landen? Nein. Er wird verstehen, dass ich es packe. Er wird aus meinem Flug lernen und das Gelernte nächstes Mal umsetzen können.
So folge ich den Wolken in nordwestlicher Richtung bis zum Simano.
Wie einfach ist es, wenn du einmal oben bist! Den Spruch «wer hat, dem wird gegeben», kenne ich wohl von meinem Vater. Und er stimmt vermutlich oft, sowohl beim Fliegen als auch im echten Leben.
Mein Vater weiss, wovon er spricht, denn er war jahrzehntelang Motor- und Segelflugpilot sowie Segelfluglehrer. Er hat alle seine drei Kinder zu Segelfliegern ausgebildet.
Ob es ihn fest geschmerzt hat, dass mir dann das Gleitschirmfliegen besser lag? Tatsache ist jedenfalls, dass wir auch heute noch gut und gern über Wind, Wetter, Thermik und Flugtaktik zusammen fachsimpeln können.
Auch am Simano trägt es prächtig. Um die Wolken herumturnen, möglichst alles mitnehmen. Ich liebe es, mich in kräftige Thermik hineinzulehnen!
Gestern noch wandernd am Fusse des Adula unterwegs, packe ich ihn jetzt fliegend. Na ja, ich versuche es zumindest, der Gipfel hüllt sich in eine Wolke. Hier sind Jan und ich im letzten Herbst mit den Geiern geflogen!
Ich weiss aus Erfahrung: Da kann es turbulent zu und hergehen. Noch aufmerksamer und konzentrierter als sonst fliege ich den schroffen Felswänden entlang – fühle mich als ein «Brösmeli» in dieser lebensfeindlichen und zugleich faszinierenden Umgebung. Und kann trotz allen Respektes doch nicht anders, als mein Handy hervorzuklauben, um ein Bild des sterbenden Paradiesgletschers zu machen.
Nun fliege ich südwärts, nahe der Basis, und auch nahe am Relief. Es ist ein Spiel: Kann ich zuhinterst im Tal, da wo ein Kessel und ein Dreitausender das Tal abschliessen, den Sprung ins nächste Paralleltal schaffen? Es hängt an einem Faden, respektive ist es davon abhängig, ob die Steinhalden trotz wenig und ungünstiger Sonneneinstrahlung etwas Aufwind hergeben, oder ob ich zuviel Höhe verliere. Letzteres hätte zur Folge, dass ich das Tal in derselben Richtung wie das Wasser des Baches verlassen muss.

Landen will ich hier keinesfalls!
Mein Spiel funktioniert, zuerst im Talkessel der Alpe Giumello, dann in der Gegend des neu erstellten Bivacco Piano della Parete (2700 m ü.M.), dann im Val Madra, dann im Val Combra.
Mit Glück schaffe ich auch die Umrundung des «Piz di Strega», des Hexenbergs zwischen dem Val Combra und dem Val Pontirone. Kaum um’s Eck und wieder auf der Sonnenseite, beamt die Hexe mich hoch, und das Calancatal wird sichtbar. Sollte ich …? - Nein, es ist Abend, und eine Landung dort würde eine lange Reise nach sich ziehen.
Schlechtes Gewissen dann am Torrent Alto: Ein grosses Rudel Gämsen flüchtet bei meinem Erscheinen am Himmel über ein Schneefeld und dann über eine Geröllhalde. Ich wünschte mir, ich könnte ihnen klar machen, dass ich harmlos bin … bestimmt harmloser als die paar Geier, welche kurz danach auf ziemlich derselben Höhe wie ich unterwegs sind.

Unterdessen fliege ich westwärts und quere bei Biasca das Bleniotal Richtung Matro. Die Wolkenstrasse, die dort beginnt und Richtung Gotthard führt, hat es mir angetan. Nun ist der Moment, etwas zu entspannen und die grandiose Aussicht zu geniessen.
Manchmal singe ich in der Luft. Nichts Hochwertiges, irgendwelche Melodie- und Textfetzen, die mir, warum auch immer, gerade in den Sinn kommen.
Wenn ich fliege, dann lebe ich fast nur im Moment, im Hier und Jetzt.
Dumm, dass der Aufwind am Bergrücken des Matro nicht da steht, wo ich ihn erwarte. Noch bevor ich den markanten Sendeturm erreiche, ist meine Höhenreserve verpufft. Auf der Leventinaseite, wo die Abendsonne doch eigentlich noch recht heizt, schleiche ich den Lärchenwipfeln nach.
Die Geduld lohnt sich, und die Thermik riecht wunderbar nach Nadelholz. Bald lasse ich Matro unter und hinter mir. Faszinierend, wie sich die Perspektive ändert, wenn es gut steigt. Geländemerkmale in der Nähe tauchen ab, der Horizont weitet sich von Kreis zu Kreis.
Zwar habe ich den Wind gegen mich, aber die Wolkenstrasse hält, was sie versprochen hat. Unten in der Leventina staut sich der Autoverkehr der Rückreisenden, oben fliegt es sich leicht. Erstaunlich, dass da niemand sonst ist: Ich bin allein auf weiter Flur. Kein Segelflugzeug, kein Gleitschirm, niemand. Früher hätte mich die Einsamkeit eher beunruhigt. Jetzt kaum – aber mir wird bewusst, dass ich es mag, unterwegs andere anzutreffen.
Hoffentlich ist Samuel gut gelandet.
Dass ich in der Luft manchmal singe, habe ich ja schon gestanden. Nur, ich rede auch. Mit den Greifvögeln («Sind ihr Liebi?»). Mit meinem Schirm («Brav, Flügeli!»). Mit dem Aufwind («Chumm, chumm, chumm…!»). Mit dem Abwind («Souhund!») Und mit mir selber («Ich verstah de Wind daa nöd!» oder «Chaschper, du bisch en Lööli!»).
Am Pizzo Molare ist der Bart für diese Uhrzeit noch erstaunlich lebendig und stark. Richtung Airolo sieht es problemlos aus und macht Appetit auf mehr. Dennoch: Es ist Zeit, umzukehren, mich auf den Heimweg zu machen.
Statt für die Direttissima entscheide ich mich dafür, der Wolkenstrasse in der Gegenrichtung und mit Rückenwind noch etwas treu zu bleiben, und so meine schöne Höhe möglichst zu erhalten.
Es ist kühl geworden, nun friere ich in meinen kurzen Hosen. Wenn ich voll beschleunige, zittern meine Beine, und mit ihnen das ganze Sitzli, der ganze Körper.
Jetzt halte ich auf das Val Malvaglia zu.
Ein Blick auf mein Handy zeigt die Nachricht meiner Liebsten: «Ales guet bi dir?»
Kein Wunder, es ist ja schon 18 Uhr vorbei! Flugs sende ich ein Bild und schreibe, ich sei im Anflug auf Dagro.
Noch bin ich hoch genug und kann spazierenfliegend die Alpen Prou und Ciou (da sind wir gestartet, es kommt mir vor, es sei lange her!) besuchen.
Ich schwanke zwischen der bequemen, aber risikoreicheren Landung direkt da, wo wir wohnen, und der erprobten, sicheren Landung in Ciavasch, zwei, drei Kilometer entfernt. Lasse mir beide Möglichkeiten offen, und entscheide mich dann für die zweite Variante. Denn was nützt der schönste Flug, wenn die Landung missrät?
Ich taste mich an den Landeplatz heran, fliege den Plan A mit dem guten Gefühl, hier auch die Chance eines Plan B oder sogar eines Plan C zu haben.
Die Erde berühren. Zusammenpacken. Heimwandern.
Erwartet werden. Erlebtes teilen.
Essen, trinken, schlafen.
Und träumen, von nächsten Flügen.
Kaspar Rüegg
Gerne gebe ich den «Stafettenstab» weiter an Thomas Letsch.